Interview mit Enrique Gasa Valga, Juni 2022
Wenige Wochen vor der Premiere von „Evita“ haben wir Enrique Gasa Valga nach einer fünfstündigen Probe getroffen und bei einem kleinen Bier mit ihm über das Tanzen und das Leben geredet. Und darüber, warum es keineswegs (nur) negativ sein muss, ein Macho zu sein.
OperettenSommer Kufstein: Warum ist Tanzen deine Art, mit der Welt zu kommunizieren — warum nicht ein anderes künstlerisches Genre wie Malerei oder Literatur?
Enrique Gasa Valga: Eigentlich war es Zufall, dass ich Tänzer wurde. Es hätte können alles sein, was mit Bewegung zu tun hat. Tatsache ist, dass ich in der Schule ein komplettes Desaster und ein sehr aggressives Kind war. Ich bin überall hinausgeflogen, oft in Raufereien geraten. Meine Mutter, eine Krankenschwester, hat einen Arzt in ihrer Klinik gefragt, was sie mit mir machen soll. Er hat ihr geraten, mich jeden Tag so müde zu machen, dass ich für Dummheiten keine Kraft mehr hätte. Daraufhin hat sie mich, ich war damals acht, beim Ballett angemeldet. Und ich hasste anfangs jede einzelne Minute davon.
Wann hat sich das geändert?
Als wir eine kleine Aufführung hatten und das Publikum mir applaudierte. Das war buchstäblich das erste Mal, dass ich etwas im Leben gut gemacht hatte. Ich war glücklich. Und im Gegensatz zur Schule war ich beim Ballett sehr fokussiert und fleißig. Ich verließ die Schule mit 13 Jahren und mein Vater bestand darauf, dass ich arbeiten gehe. Mein erster Job war, Waschmaschinen in Häuser ohne Aufzug zu schleppen.
Ich war ein Einzelkind, komme aus einer Kleinstadt von Arbeitern. Wir lebten zu acht — meine Eltern und ich, drei Cousins und deren Eltern — in einer 60-Quadratmeter-Wohnung. Mein Vater war ein sehr begabter Ingenieur. Er hatte das Asperger-Syndrom und war deshalb ein komplizierter Mann, aber er war hochintelligent. Wir hatten lange eine sehr schwierige Beziehung, aber als ich ungefähr 30 wurde, hat sich das geändert. Er starb vor einem Jahr.
Was hielt dein Vater vom Tanzen?
Er war lange nicht gerade begeistert davon.
Weil Tanzen kein Beruf für einen Mann ist?
Erstens kein ein Beruf. Und zweitens schon gar nicht für einen heterosexuellen Mann. Aber auch das wurde irgendwann anders. Es gibt da eine wunderbare Anekdote, die mir immer wieder einfällt. Wir fuhren im Auto irgendwohin, er hat wie immer nicht viel geredet und ständig geraucht. Ich wollte ihn provozieren und sagte: „Papa, ich weiß, dass du hasst, was ich tue. Du hättest es viel lieber, wenn ich einen technischen Beruf hätte wie du oder ein Anwalt oder irgendwas geworden wäre.“ Er antwortete: „Weißt du was, Enrique? Früher dachte ich immer, dass du ein Idiot bist — jetzt bin ich mir sicher. Du tust etwas, was du liebst, und die Leute jubeln dir auch noch zu dafür. Ich hingegen arbeite in einer Fabrik ohne Fenster, niemand applaudiert mir und ich mag meinen Job noch nicht einmal besonders. Wenn du das für besser hältst, musst du wirklich ein Idiot sein.“
ABBA singen in „Thank you for the music“ „Mother says I was a dancer before I could walk“, „Mutter sagt, ich war schon eine Tänzerin, bevor ich überhaupt gehen konnte“. Trifft das auch auf dich zu?
In gewisser Weise, ja. Ich habe eine sehr lebhafte Erinnerung: Meine Mutter liebte das Tanzen und ich liebte ihre VHS-Kassetten mit alten Tanzfilmen von Gene Kelly usw. Als ich vier, fünf Jahre alt war, sagte sie zu mir: „Enrique, schließ die Augen, lass die Musik in dich hinein — und dann beweg dich!“ Viele Jahre später, als ich ein professioneller Tänzer war und vor großen, schwierigen Premieren stand, habe ich immer an diesen Satz gedacht. Und tatsächlich sage ich das heute noch oft meinen Tänzern: „Schließ die Augen und lass die Musik in deinen Körper hinein!“
Was haben deine Eltern dir fürs Leben mitgegeben?
Mein Vater hat mir vor allem Verlässlichkeit vorgelebt. Er wollte einen Macho als Sohn. Ich weiß schon, dass der Begriff im deutschen Sprachraum ambivalent oder eigentlich negativ besetzt ist, aber in Spanien bedeutet ein Macho zu sein, zumindest auch, für die Familie zu sorgen, sich zu kümmern, zu seinem Wort zu stehen, Frauen gegenüber ein Gentleman zu sein.
Und deine Mutter?
…hat mich gelehrt, zu mir zu stehen, mit allen Konsequenzen immer ich selbst zu sein. Einmal steckten sie mich in der Schule für drei Monate in eine Klasse für Behinderte, weil sie nicht mehr wussten, was tun mit mir. Mama ist total ausgeflippt vor Wut — und zwar nicht auf mich, sondern auf die Schule. Das ist etwas, das ich auch meinen Kindern mitgeben möchte, wenn meine Frau und ich welche bekommen.
Du hast deinen Job bei großen Choreographen gelernt und im Laufe deiner Karriere mit berühmten Menschen gearbeitet. Wessen Einfluss auf dich war der wichtigste?
Ich hatte das Glück, in Spanien bei María de Ávila und an der nationalen Ballettschule in Kuba bei Alicia Alonso zu studieren. Diese beiden Frauen haben Generationen von Weltklasse-Tänzern ausgebildet und ich darf heute an meine Tänzer weitergeben, was ich von ihnen gelernt habe. In meinem Zugang zum Job aber habe ich zweifellos am meisten von Brigitte Fassbaender und ihrer Partnerin Jennifer Selby gelernt. Brigitte ist ein Weltstar, sie braucht seit langer Zeit nichts mehr, weder die Bestätigung noch das Geld — aber die bedingungslose Liebe, Hingabe und ungeheure Disziplin, mit der sie und Jenny nach wie vor arbeiten, ist unglaublich. Und sie hilft mir nach wie vor in jeder Beziehung und immer wieder. Von ihr habe ich gelernt: Du musst lieben, was du tust, und mit allen Konsequenzen alles dafür geben. Nur dann bekommt das Publikum das Erlebnis, das es verdient. Das Publikum spürt nämlich, ob du auf der Bühne dein Leben gibst. Es gibt einen Grund dafür, wieso man noch immer nicht herausgefunden hat, wieso man — abseits von plötzlicher Kälte — Gänsehaut bekommt. Du reagierst unwillkürlich und körperlich darauf, wenn vielleicht nur für einen Moment lang plötzlich alles perfekt ist.
Das versteht wohl nur ganz, wer selbst einmal auf der Bühne gestanden ist.
Dazu kann ich eine schöne, tatsächlich wahre Anekdote erzählen: Als ich in Mannheim arbeitete, saß ich eines Tages bei einem Abendessen mit dem Chefplaner des Frankfurter Flughafens, einem bekannten Schönheitschirurgen und einem ebenso bekannten Anwalt. Der Flughafenbauer sagte: „Ich habe einen der größten Flughafen der Welt gebaut, ich komme einem Gott ziemlich nahe.“ Der Chirurg widersprach: „Wenn hier einer ein Gott ist, dann ich. Ich korrigiere Gottes Fehler.“ Der Anwalt meinte: „Beides falsch. Wenn ihr beide Probleme habt, kommt ihr zu mir, um sie zu beheben.“ Alle drei haben sich ein bisschen über mich lustig gemacht, weil ich schließlich nur ein armer Künstler bin. Aber ich sagte: „Nichts von dem, was ihr tut, kommt einem göttlichen Akt gleich. Ihr drei taucht im Theater für ein paar Stunden in ein Paralleluniversum ein, das ich geschaffen habe. Und ihr zahlt auch noch dafür.“ Worauf die anderen drei sagten: „Schon richtig. Aber unterm Strich bist du trotzdem ein armer Künstler.“
Was vermisst du am meisten daran, selbst zu tanzen?
Die Sache ist, und das ist sogar wissenschaftlich nachgewiesen: Wenn du eine Premiere hast, fährt dir ein derartiger Adrenalin-Kick ein, dass du höher springst als normal, keine Schmerzen spürst usw. Das macht süchtig. Aber: Als Choreograph und Regisseur eine Premiere zu erleben, ist noch schöner und noch schlimmer gleichzeitig. Wenn du selbst tanzt, hast du die Kontrolle. Aber wenn du nur zuschauen und es passieren lassen kannst… Ehrlich gesagt, überstehe ich keinen Premierenabend, ohne mich zu betrinken. Diese Gefühlsexplosionen sind mit fast nichts anderem zu vergleichen.
Meine Aufgabe als Choreograph und Regisseur ist es, meine Künstlerinnen und Künstler zu beschützen. Ich will ihnen die bestmögliche Plattform geben, ihre Stärken hervorheben und ihre Schwächen verbergen. Der Erfolg einer Show geschieht nämlich nicht dir als Regisseur. Wenn du einen schlechten Job machst, können die Künstler auf der Bühne die Produktion immer noch retten.
Du lebst seit vielen Jahren in Tirol. Was magst du an den Tirolern — und was fandest oder findest du immer noch gewöhnungsbedürftig?
Ich habe ja nicht umsonst eine Tirolerin geheiratet! Tiroler sind vielleicht nicht so warm und überschwänglich wie wir Spanier, aber sie sind direkt, das mag ich sehr. Was Tirolern vielleicht gut täte, wäre die Fähigkeit, sich öfter einmal zu entspannen.
Wie hast du deine Frau davon überzeugt, dich zu heiraten?
Das war tatsächlich sehr schwierig. Sie war anfangs sehr zögerlich, fast ängstlich — ein spanischer Künstler mit dem Image eines Macho-Gigolos… Vor acht Jahren war da zwar etwas zwischen uns, aber wir waren nicht fix zusammen. Ich lud sie ein, mich in Spanien in meinem Dorf zu besuchen und meine Familie kennenzulernen. Da hat sie gesehen, dass ich ein ganz normaler Mensch bin. Das hat wohl den Ausschlag gegeben.
Warum hast du dich in sie verliebt?
Wenn sie lächelt, lächelt ein ganzer Raum voller Menschen mit ihr. Sie lacht über meine Witze, auch die schlüpfrigen. Und sie ist sehr intelligent und im Gegensatz zu mir sehr gut organisiert. Ich denke, sie braucht etwas mehr von meinem Chaos und ich brauche mehr von ihrem Pragmatismus.
Umgekehrt gefragt: Warum, denkst du, sind die Tiroler so angetan von dir?
Ich glaube, das Tiroler Publikum erkennt instinktiv Qualität. Auch wenn die Leute nicht im Detail wissen und es auch nicht wissen müssen, wie hart die Künstler gearbeitet haben, um eine Produktion auf die Bühne zu stellen, spüren sie es doch und honorieren es.
Sänger werden öfter gefragt, ob sie auch unter der Dusche Arien schmettern. Tanzt du manchmal übermütig einfach so mit deiner Frau durchs Wohnzimmer?
Nie! Ich tanze privat prinzipiell nicht. Obwohl sie gern mit mir tanzen würde. Aber ich sage dann immer: „Ich tanze nicht gratis.“ Worauf sie antwortet: „Ich mach dir auch gratis deine Steuererklärung.“
Was fasziniert dich an „Evita“ — der Person und dem Musical?
Sie ist eine Ikone aus einer politisch sehr interessanten Zeit. Und Webbers Musical ist grandios, das ist ein Klassiker, der auch in 100 Jahren noch gespielt werden wird. Das lässt niemanden kalt. Unsere beiden Kufsteiner Evitas Anna Brull und Sarah Zippusch sind phantastische Sängerinnen. Wir reden viel darüber, dass Evita eine Person war, die den beiden gar nicht so unähnlich ist: Eine Schauspielerin, die für ihren persönlichen und ihren politischen Traum für ihr Volk gekämpft hat.
Die Festung Kufstein ist ein sehr spezieller Ort für Theater.
Das ist wohl wahr! Die Bühne ist sehr breit, aber nicht tief, die Zuschauer in den ersten Reihen sind sehr nahe am Geschehen, und allein der Festungsberg ist spektakulär. Das Erlebnis OperettenSommer beginnt in dem Augenblick, in dem der Zuschauer in der Stadt drunten sein Auto parkt. Du musst dich als Regisseur ordentlich anstrengen, um dem Niveau des Aufführungsortes gerecht zu werden. Der OperettenSommer bietet ein phantastisches Konzept, eine phantastische Location und ein phantastisches Stück. Der einzige, der versagen kann, bin ich selbst.
Plagen dich vor einer Premiere manchmal Selbstzweifel?
Ununterbrochen! Ich gehe oft und oft aus einer Probe und denke: „Was zur Hölle soll das alles?“ Oder ich zeige meiner Frau ein Video am Handy und sie sagt: „Ja ja, Enrique, das ist gut.“ Ich dann: „Was heißt gut? Ist es bloß gut oder richtig gut? Kannst du bitte emotional mehr beteiligt sein?“
Wie lange arbeitet sich ein Stoff durch dein Hirn, bevor du anfängst, ihn in eine konkrete Inszenierung und Choreographie zu übersetzen?
Tatsächlich gehe ich immer von der Musik aus und bereite ansonsten wenig vor. Theater ist keine Demokratie, klar, und ich weiß schon, was ich will. Aber wenn man ein zu enges, vermeintlich fertiges Konzept über die Kreativität des Ensembles stülpen will, geht viel verloren. Es ist doch besser, wenn 30 Köpfe mitdenken und gemeinsam eine Produktion entwickeln.
Viele Künstler sind abergläubisch und vollziehen vor Premieren diverse Rituale. Verrätst du uns dein abergläubisches Geheimnis?
Ich habe hunderte… Nur ein paar Beispiele: Wenn ich am Getränkeautomaten ein Cola will, es aber die Nummer 20 hat, nehme ich das Fanta unter Nummer 21, weil gerade Zahlen Unglück bringen. In meiner Gegenwart darf niemand hinter der Bühne pfeifen, verschüttetes Salz bringt ebenso Unglück wie unter einer Leiter durchzugehen oder über das ausgestreckte Bein eines Tänzers drüber zu steigen. Es endet nie… Aber die Sache ist: Als arroganter spanischer Macho versuche ich selbstverständlich immer, meine Ängste total cool zu überspielen.
Ist das nicht furchtbar anstrengend, ständig auf so viele Dinge achten zu müssen?
Schon. Aber auf eine Premiere hinzuarbeiten, ist eine brutale Situation. Eine Woche davor gehst du ins Bett und siehst nicht mehr, was gut läuft. In deinem Kopf arbeitet nur noch nonstop, was alles nicht so gut ist, wie du es möchtest. Da brauche ich es, dass alles andere reibungslos funktioniert.
Ein Blick voraus auf das Jahr 2023, du wirst in Kufstein „Jesus Christ Superstar“ inszenieren. Muss man religiös sein, um mit so einem Stoff umgehen zu können?
Nein. Du kannst gläubig sein oder nicht, Fakt ist: Die Bibel ist zweifellos die größte Literatur, die je geschrieben wurde, und das Personal ja historisch. Als Jugendlicher habe ich in meinem Heimatdorf übrigens bei der Passion mitgespielt, da sind, ganz ähnlich wie bei den Tiroler Passionsspielen in Erl und Thiersee, hunderte Leute auf der Bühne. Ich war ein römischer Soldat.
„Jesus Christ Superstar“ ist das Musical der Musicals, ein Hit nach dem anderen, die Maria Magdalena und der Judas sind phantastische Rollen. Ich bin ein glücklicher Mann!